Mutationen
Mutationen in der Pflanzenzüchtung
Mutationen in der Pflanzenzüchtung verstehen
Leben entwickelt sich nur aufgrund von Fehlern weiter – den Mutationen
Das Leben beruht seit mehr als 3 Milliarden Jahren auf der Existenz und Vermehrung von Nukleinsäuren, im Wesentlichen der Desoxyribonukleinsäure (DNA). Die DNA besteht aus zwei komplementären Polymeren, den Strängen der „Doppelhelix“. Die Reihenfolge der vier Nukleotide Adenin (A), Thymin (T), Guanin, (G) und Cytosin (C) entlang dieser Stränge, stellt die genetische Botschaft, das Genom eines Organismus dar.
Die Mechanismen, die es ermöglichen, dass eine identische Kopie der DNA bei jeder Zellteilung reproduziert wird, sind nicht ganz fehlerfrei. Die DNA ist auch physikalischen Gefahren ausgesetzt, wie z. B. Strahlung oder Chemikalien. Durch mehr oder weniger komplexe Prozesse führen diese Expositionen zu Veränderungen in der DNA-Sequenz, den Spontanmutationen. Die frühere und heutige Vielfalt an Lebensformen stellt das Ergebnis einer unendlichen Abfolge dieser Fehler, dieser Mutationen, dar. Ohne sie wären die ursprünglichen Moleküle auf dem Bereich der Chemie und der leblosen Materie beschränkt geblieben.
Mutationen umgeben uns überall, aber oft sind sie nicht erkennbar
Wir haben uns daran gewöhnt zu glauben, dass spontane Mutationen selten sind: Die Unveränderlichkeit der Arten war über Jahrhunderte hinweg ein Dogma. Das phänotypische Aussehen von Arten hat sich für den Beobachter kaum verändert. Gärtner und Züchter waren hier vielleicht eine Ausnahme. Die modernen Methoden zur DNA-Sequenzierung ermöglichen eine objektive Analyse der Häufigkeit von Mutationen. Das Genom eines Kindes weist jeweils die Hälfte des elterlichen Genoms auf, aber es enthält etwa 70 Mutationen, die vor der Vereinigung der Keimzellen der Eltern entstanden sind. Unser Körper besteht aus Milliarden von Zellen und in all diesen sind die Kopien unseres Genoms in nur sehr wenigen frei von Mutationen. Der Bauer erntet auf einem Hektar Weizen so viele Mutationen, wie es Gene in dieser Art gibt, und auf der ganzen Welt mutiert jedes dieser Gene hunderte Male.
Aufgrund der Eigenschaft des genetischen Codes sind viele dieser Punktmutationen stumm, d.h. sie haben keine Auswirkungen. Der genetische Code ist degeneriert. Jeweils drei Nukleotide (Basen) codieren für eine Information, für eine Aminosäure. Mehrere Codons kodieren für die gleiche Aminosäure. Daher werden Struktur und Funktion eines Proteins nicht verändert. Aber dennoch sind es die wenigen spontanen Mutationen, die die genetische Variation der Arten ausmachen und durch die alle Arten Anpassungen an Veränderungen im Ökosystemen erreichen.
Diese Variation wird von Züchtern für die Auslese neuer Pflanzenvarietäten genutzt. Aber der Züchter kann nur einen sehr kleinen Teil dieser genetischen Variabilität nutzen. Der Mikrobiologe kann Milliarden von Bakterien im Reagenzglas manipulieren und in der Petrischale auf Mutationen analysieren. Der Pflanzenzüchter dagegen ist (war) darauf angewiesen im Feld, im Freilandversuch, unter den vielen tausenden von Pflanzen jene Pflanze mit der zufälligen für ihn nützlichen Mutation herauszufinden. Letztlich ist hierfür ein großer Zeitaufwand notwendig und dennoch wird der Züchter nur einen Bruchteil der Variabilität einer Art erfassen. Dies war mit ein Grund, warum Züchter seit mehr als einem Jahrhundert die Mutationszüchtung (oder induzierte Zufallsmutagenese) einsetzen, um eine größere Anzahl von Mutationen zu erreichen und die genetische Variabilität zu vergrößern.
Die Art der spontanen Mutationen ist äußerst variabel
Fehler bei der Replikation oder die Exposition gegenüber Strahlung oder mutagenen Chemikalien können verschiedene Auswirken auf das DNA-Molekül haben: Nukleotid-Substitutionen; Hinzufügen (Insertion) oder Entfernen (Deletion) von benachbarten Nukleotiden; Eliminierung eines Chromosomenfragments oder sogar eines ganzen Chromosoms (Aneuploidie); Einfügen anderer endogener DNA-Sequenzen wie Chloroplasten-DNA-Fragmente oder sogar eines ganzen mitochondrialen Genoms; Umlagerungen von Genomfragmenten zueinander, wie z.B. die Umkehrung der Ausrichtung einer Sequenz auf einem Chromosom oder die Verlagerung eines Fragments an eine andere Stelle im Genom (Translokation) auf demselben oder einem anderen Chromosom; die Einfügung von Transposons oder Retro-Transposons, die die Expression eines Gens inaktivieren oder verändern. Letztere haben eine wichtige Rolle bei der Domestizierung und Vielfalt von Kulturpflanzen gespielt.
Die induzierte Zufallsmutagenese bei Pflanzen wurde im 20. Jahrhundert entwickelt
Bereits 1908 setzte S. Gager blühende Pflanzen des Stechapfels (Datura stramonium) einer Radiumbestrahlung aus und entdeckte, dass diese Behandlung bei den Abkömmlingen neue Eigenschaften ausprägte. 1928 beschrieb Stadler, wie er durch Bestrahlungen die ersten Gerstenmutanten erzeugte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Röntgen- oder Gammastrahlen eingesetzt, um das Auftreten sehr vieler Mutationen zu erreichen, um dann leichter Pflanzen mit neuen Eigenschaften zu selektieren. Ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurden verschiedene mutagene Substanzen eingesetzt, in der Hoffnung, dass sie die Variation bestimmter Gene und damit bestimmter Merkmale steuern könnten. Diese Hoffnung hat sich jedoch nicht erfüllt. Eine bestimmte Deregulierung von DNA-Reparatursystemen oder die Kontrolle von transponierbaren Elementen unter Stressbedingungen in der Gewebekultur fördert das Auftreten von Mutationen bei regenerierten Pflanzen. Dieses Verfahren wird seit den 1970er Jahren eingesetzt.
Die induzierte Zufallsmutagenese ist zu einem gängigen Werkzeug in der Pflanzenzüchtung geworden. Nach nicht abschließenden Angaben aus aller Welt gab es bis 2015 bereits bei 170 Arten mehr als 3200 Sorten. Diese sind vorwiegend durch Bestrahlung entstanden. Dazu gehören Feldfrüchte (Weizen, Raps, Baumwolle, Gerste, Reis, Sojabohnen), Gemüse (Bohnen, Erbsen, Süßkartoffeln), Obstbäume (Apfel, Banane) und eine große Anzahl von Zierpflanzenarten (Chrysanthemen, Rosen).
Induzierte Zufallsmutationen sind von der gleichen Art wie spontane Mutationen
Im Vergleich zu Spontanmutationen erhöht die Strahlenbehandlung oder der Einsatz mutagener Chemikalien die Häufigkeit von Mutationen erheblich, in der Regel um den Faktor 1000. Hierdurch verringert sich die Anzahl der Individuen, die zur Selektion der gewünschten Mutation beobachtet werden müssen, im fast gleichen Verhältnis. Der Zeitgewinn ist nicht zu unterschätzen. Diese Mutagene „schädigen“ die DNA und verursachen in einer zweiten Phase weitere Mutationen, wenn sie nicht richtig repariert werden. Die Mutation ist das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen dem Auslöser (dem Mutagen), der Ziel-DNA-Sequenz und der Reaktion der DNA-Reparatursysteme der Zelle. Daraus wird deutlich, dass die Mutationen im Genom von Natur aus zufällig sind, zufällig in der Veränderung der DNA-Sequenz und zufällig durch ihre Position in der Sequenz. Bei einer mutagenen Behandlung kommen zu den zufällig induzierten Mutationen auch noch spontane Mutationen hinzu, aber in einem sehr geringen Verhältnis. Da die Art der DNA-Veränderungen in beiden Fällen die gleiche ist, gibt es keine Signatur, die auf den Ursprung einer Mutation hinweist, ob spontan oder induziert. Es besteht lediglich eine größere Wahrscheinlichkeit, dass sie durch eine „Behandlung“ verursacht wurde und nicht spontan entstanden ist. Mutationen „entstehen“ bei diesen Behandlungen und werden nicht wie bei der Transgenese „eingebaut“.
Induzierte Zufallsmutagenese
zahlreiche ungerichtete und
zufällige Mutationen
Die Pflanzenmutagenese in vitro wird seit langem praktiziert
Bei Mikrobiologen Standard: Nutzung vieler Zellen auf kleinem Raum. Pflanzenphysiologen konnten diesen experimentellen Vorteil -Mutagenese und Selektion in vitro – erst ab den 1960er Jahren nutzen. Ab dieser Zeit gelang es die Regeneration von Pflanzen aus einzelnen Zellen zu bewerkstelligen. So wurden 1973 bei Tabak aus in vitro behandelten Zellen Pflanzen gewonnen, die gegen bestimmte Herbizide resistent waren, 1974 wurden verschiedene morphologische Mutanten aus der Kultur bestrahlter Mikrosporen gewonnen. Ein wichtiger Beitrag dieser Techniken war für vegetativ erzeugte Pflanzen die Gewinnung von Pflanzen, die in allen Zellen mutiert sind, da sie aus der Regeneration einer einzigen Zelle des in vitro kultivierten Pflanzengewebes entstanden sind. Durch in vitro Verfahren wurden u.a. gezüchtet: 1974 eine Zuckerrohrsorte, die gegen ein Virus resistent ist, 1975 Chrysanthemenmutanten aus bestrahlten Blattexplantaten, 1984 Bananensorten mit größeren Stauden und Raps, der gegen die Herbizidgruppe der Imidazolinone resistent ist. Dieser Raps wurde dann 1995 in Kanada und später auch in Europa vermarktet. Es sei darauf hingewiesen, dass im letztgenannten Fall dieselben Mutationen (desselben Gens) spontan auch bei dieser Art aufgetreten sind.
Ähnliche Resistenzen gegen Imidazolinone wurden auch bei Mais und bei Sonnenblumen gefunden, aber auch durch die mutagene Behandlung von Weizen- und Reissaatgut erzeugt. Dies zeigt, dass dieselben Mutationen bei verschiedenen Arten auftreten, ohne dass sich ihre Ursache bestimmen ließe – sei es spontan, induziert, in vitro oder in vivo.
Fazit: Die Verfahren zur Mutagenese ändern nichts an der Natur der Mutationen
In der Pflanzenzüchtung wird die in vivo induzierte Mutagenese seit Anfang des 20. Jahrhunderts und die Mutagenese in vitro seit Mitte des Jahrhunderts eingesetzt. Diese beiden Verfahren zur genetischen Veränderung haben zur Züchtung von Pflanzen mit interessanten agronomischen oder qualitativen Merkmalen und in der Folge zur Kommerzialisierung von mehr als 3000 Sorten weltweit geführt. Eine Entscheidung ob die genetische Veränderung in vivo oder in vitro herbeigeführt wurde ist nicht möglich. Pflanzenzellen können unter verschiedenen Umständen der Einwirkung von Mutagenen ausgesetzt sein, je nachdem, in welchem Organ sie sich befinden (Blütenstand, Pollen, Zwiebel, Samen, Knospen oder Zweige), ob in der Pflanze selbst oder isoliert in Form von in-vitro Mikroschnitten oder in-vitro Zellkulturen. Es gibt keine spezifische Signatur für diese Umstände der Mutagenese. Keine Mutation unterscheidet sich von einer anderen durch die Tatsache, dass sie induziert oder spontan ist. Eine Unterscheidung nach diesem Kriterium entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage und ist daher willkürlich.
Siehe hierzu auch:
► Französischer Staatsrat stuft in-vitro Mutageneseverfahren als Gentechnik ein
in-vitro mutierte Pflanzen müssen wie gentechnisch veränderte Organismenreguliert werden.
► Frankreich Notifizierungsverfahren 2020/280/F – „in-vitro-Mutageneseverfahren“
Novellierung der Umweltgesetzgebung Art. D 531-2 – Umsetzung von EuGH-Urteil (C-528/16)
Für weitere Informationen:
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Teilweise übernommen und modifiziert: AFBV:“Understanding the value of mutations in plant breeding“ https://www.biotechnoloies-vegetales.com
Fortsetzung folgt: Transgenese / Cisgenes und neue genomische Techniken (NGT)